Mischmar Haemek, 29. 7. 35.
Meine Lieben,
heute will ich Euch von meinen Eindrücken in Jerusalem schreiben, so gut ich
das wiedergeben kann.
Vorauszuschicken ist, daß ich von Jerusalem ganz begeistert bin. Es ist die
schönste Stadt, die ich bis jetzt sah.
Das Haus, in dem ich wohnte, lag ziemlich am Ende der Stadt. Ich sah die ganze
Stadt unter mir liegen. Hervor ragten die Kuppeln und Türme von Kirchen,
Moscheen und Regierungsbauten, die Altstadt mit der Stadtmauer und die
Omarmoschee. — Es ist nicht nur die Schönheit der Landschaft, die Jerusalem so
hervorragend wirken läßt.
Wir fuhren mit einem Omnibus bis vor die Altstadt. Sie ist umgeben von einer
mächtigen Stadtmauer. Durch ein Tor tritt man ein. Zuerst sind die Straßen
noch ziemlich breit und sauber. Antiquitäten -Geschäfte, in denen man so viel
Geld loswerden kann, wie man will, Barbershops usw.
Plötzlich verengen sich die Straßen, und man befindet sich im Schuk. Ein Stück
unverfälschtes Arabien. Laden an Laden. Eine dichte Menge, meistens Araber,
windet sich durch die Gassen. Die Händler bieten laut schreiend ihre Waren an.
Man feilscht um jeden Pfennig, das ist hier so ein Sport. Jede Art von
Geschäft hat hier ihr Gebiet. Manchmal zanken sich zwei arabische
Konkurrenten. Es sieht so aus, als ob sie jeden Moment übereinander herfallen
würden, aber beide sind zu feige dazu und schubsen sich höchstens. Die
Energie, die in Berlin ein rauflustiger Rollkutscher zum Schlagen verwendet,
verwenden sie zum Schimpfen und Schreien. Ein Glück übrigens, daß ich noch
nicht die arabischen Schimpfworte kenne.
Kein Sonnenstrahl fällt in den Basar. Oft ist er sogar überdacht. Ich habe
dort einen leichenblassen Araber gesehen. Er dreht den ganzen Tag im Schuk
eine Mühle. Er ist so blaß, weil er nie die Sonne sieht. Hier ist alles so,
wie es vielleicht vor tausend Jahren war.
Ich frage mich durch zur Klagemauer. Man muß zu diesem Zweck vom Schuk
abbiegen, d. h. aber nicht, daß sie nicht in der Altstadt liegt. Noch engere,
halbverfallene Gassen. Daß ich richtig gehe, merke ich an den alten Juden,
denen ich auf dem Wege dorthin begegne. Rings um die Klagemauer stehen elende
jüdische Bettlerinnen, Menschen, die auf einer Lebensstufe stehen, von der man
nicht mehr sinken kann. Alte, kranke, arme, vollkommen zerrüttete Gestalten.
Dann an einer Polizeikabine vorbei, und ich stehe unmittelbar vor der Mauer.
Sie steht an keinem besonderen Platz. Sie ist inmitten dieses Gassengewimmels.
Aber sie überragt alle anderen Mauern. Ihre Bausteine sind mächtige, riesige
Quadern, einfach aufeinandergeschichtet, ohne Mörtel zusammengehalten. Ein
Wunder, wie man sie gebaut hat. In den unteren Steinen sind hebräische
Buchstaben eingeschlagen. Die Mauer ist nicht so sehr groß. Aber diese
Überreste stehen wuchtig da und sind Zeugen einstiger jüdischer Kraft.
Aber was sind das für Menschen an der Mauer?! Dort stehen sie, Gestalten,
beladen mit der ganzen Galuth, mit der ganzen Knechtung des Judentums auf
ihren Schultern. Dort gibt es auch halbe Kinder. Aber auch sie lassen sich
Barte stehen, gehen in der Kleidung der Galuth. Von den Alten schon gar nicht
zu reden. Gebeugt, schwach, das Abbild einer Degeneration. Zwischen ihnen ihre
Frauen, ebenso gebeugt, weinend, klagend. Es sind Chalukkajuden, demoralisiert
und degeneriert. Sie warten auf den Maschiach. sie beten und küssen die Mauer,
aber für den Aufbau werden sie nicht den Finger krumm machen. Ja, sie werden
sich ihm sogar entgegenstellen. Ihre Kinder werden in derselben Weise erzogen.
Sie leben genau
so wie ihre Brüder in der Galuth, in Polen oder anderswo. Eine Aufgabe ist es,
diese Jugend zu erfassen und dann erst richtig zu Juden zu machen.
Von der Klagemauer gehe ich zur Omarmoschee. Da ich aber nicht genügend Geld
habe, um die 20 Piaster zum Eintritt zu zahlen, die der Mufti dann zum
antizionistischen Kampf verwendet, gehe ich, ohne sie gesehen zu haben.
Schade, es soll eine der schönsten Moscheen sein.
Wir verlassen den Schuk und fahren zur Universität. Auch sie liegt am Ende der
Stadt. Neben ihr ist die Nationale Bibliothek. — Wir fahren durchs Bankviertel,
vorbei an Kirchen und Palästen, fahren höher, lassen Jerusalem hinter uns,
hinauf auf den Berg am Ende der Stadt. Von dort hat man einen wunderbaren
Ausblick über Jerusalem. Nicht umsonst wird Jerusalem als eine der
sehenswertesten Städte bezeichnet. Eine Stadt der großen Gegensätze. Juden,
Christen, Araber — für alle drei Religionen ist Jerusalem ein wichtiges
Zentrum.
Ben
Quelle: Jeruschalajim, den... Briefe
junger Menschen schildern Erez Israel. Gesammelt und herausgegeben von Rudolf
Melitz, Berlin 1936.
hagalil.com
01-05-08
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