Tel Aviv, den 29. 3. 1936.
Da es gerade kühl ist, da ich gerade keine Überstunden mache und da für die
Iwrithstunde schon die Pessachferien angefangen haben, will ich schnell noch
im Büro versuchen, einige allgemeine Eindrücke zu schreiben.
Man kommt ja immer in die Gegend, in die man unter keinen Umständen will. In
Berlin behauptete ich immer, nie nach Tel Aviv . . . Und die erste, Arbeit,
die mir angeboten wird, ist in Tel Aviv. Und ich finde es lange nicht so
schlimm, wie ich glaubte. Es ist natürlich nicht Palästina. Vielleicht ein
Umweg nach Palästina, wie es irgendein Literat mal genannt hat, vielleicht
eine jüdisch-europäische (stark deutschsprachige!) Insel mitten im arabischen
Orient. Vielleicht ist die Stadt auch palästinensischer, als man glaubt, aber
dazu müßte man Palästina kennen, und das tue ich nicht.
Tel Aviv als Stadtbild ist bekannt. Eine moderne Stadt, aus
Bauspekulationsgründen unheimlich schnell und völlig unorganisch gewachsen,
keine Altstadt, nur Häuser mit ultramodernen Fassaden, denen man schon
ansieht, daß sie nicht viel Jahrzehnte stehen werden, Straßen voller Sand und
Bauschutt, weil trotz der Krise noch in jeder Straße gebaut wird. In den
Geschäftsstraßen modernste Auslagen, saubere Läden, elegante Dekorationen und
— eingeschlagene Fensterscheiben. Motiv: Demonstrationen gegen Läden, die
nicht "Tozereth haarez" (made in Palestine) führen, sondern vor allem
europäische Waren.
Außer den Straßen sieht man wenig. Nur den Strand. Der bietet immer das
gleiche Panorama, wenn das Meer immer gleich aussehen könnte. Man sieht vor
sich das Wasser, farblich täglich anders, über sich den unerhörten
Sternenhimmel (nachts) und links zu allen Tages- und Nachtzeiten Jaffa, das
auf einem Vorsprung liegt und außerdem hügelig aufgebaut ist, so daß man
Jaffa wie einen bebauten Berg vor sich sieht. Vor Jaffa, draußen im Meer,
liegen alle die Schiffe, die Euch bringen.
Sonst lebt man in kleinem Kreis. Strandpromenade und Allenbystreet — viel
weiter kommt man nicht herum, wenn man spazieren geht. Und da diese beiden
Straßen immer voll sind, ist es nicht immer ein Vergnügen. Wir sind ja auch
nie gern über Kurfürstendamm und Tauentzien gegangen. Aber man kommt wenig
darüber hinaus. Nur am Schabbath an den Strand, und der ist dann wie Freibad
Wannsee. Außer Schabbath hat man keine Zeit zum Baden, aber wenn erst die
Sommerzeit anfängt und man schon früh schließt, dann wird man täglich gegen
Abend baden können. Es soll aber kein Vergnügen sein, da das Wasser ja dann
die Temperatur eines ziemlich heißen Bades haben wird. Gestern habe ich zum
ersten Mal im Mittelmeer gebadet und sogar geschwommen, da ruhiger Seegang
war, d. h. es waren so gute Ostseewellen. Aber es war herrlich. Sonst kann man
wenig am Schabbath anfangen, da von Freitag abend bis zum Sonnabend abend
keine jüdischen Verkehrsmittel fahren. Man muß sich also schon Freitag mittag
entschließen, über Wochenende fortzufahren. Das kann man nur dann tun, wenn
man an dem betreffenden Ort eine Unterkunft hat. Ich wäre z. B. gern mal nach
Haifa gefahren. Aber mit übernachten wird das viel zu teuer. Gestern nach dem
Schwimmen wäre ich gern nach Gedera zur Mischpachah gefahren, aber da ging
kein Autobus. Und wenn ich schon am Freitag gefahren wäre, hätte ich kein
Seebad gehabt. Das sind so unsere Sorgen. Also man kann seine freie Zeit nicht
so ausnutzen, wie man möchte, wenn man kein Auto hat. Und wenn man eins hat,
ist es auch nicht angebracht, am heiligen Schabbath zu fahren.
Man ist also auf den Strand, auf die Cafes und auf die Bekannten, die man dort
trifft, angewiesen. Auch personell lebt man in kleinem Kreis. Hier kennen sich
wirklich alle Juden. Vor allem die deutschen. Man kann nichts geheim halten.
Man kann nicht verschiedene Versionen einer Sache bekannt geben. Es kommt
alles heraus.
Dass Tel Aviv eine rein jüdische Stadt ist, kommt mir nie zum Bewußtsein.
Nicht nur, weil man so viel blonde Männer und fast nur blonde Kinder sieht.
Das ganze "Judesein" ist mir hier ebensowenig ein
Problem wie früher. Daß man nur mit Juden zusammenlebt, nur mit Juden
zusammenkommt, ist mir weder besonders erfreulich noch irgendwie
unsympathisch, sondern einfach selbstverständlich. Auch "typisch Jüdisches"
spüre ich nicht. Die Leute sind wortkarg, gar nicht besonders redselig —
wenigstens die, die nicht neu eingewandert sind — eher unfreundlich "sachlich"
als zudringlich — also mir besonders liebe Züge. Daß Schuster, Bäcker,
Postbote, Chauffeur, Schuhputzer, Verkäufer, daß alle Juden sind, ist ganz
natürlich. Vielleicht fallen die Klassenunterschiede hier weniger auf als in
Europa. Der Arbeiter verdient hier weit mehr als der Bankangestellte.
Vielleicht tritt daher der Poel ebenso selbstbewußt auf wie der
Stehkragenbürger und wird auch in jedem Geschäft und in jedem Cafe ebenso
liebenswürdig-unliebenswürdig behandelt wie dieser.
Auch von der berühmten orientalischen Schlamperei habe ich persönlich noch
nichts gespürt. Die Autobusse fahren alle fünf Minuten pünktlich von der
Endstation ab. Wenn sie unterwegs so voll sind, daß sie keine neuen Fahrgäste
mehr aufnehmen können, so daß man oft eine halbe Stunde in glühender Sonne auf
den Bus warten muß, so ist das nicht schuld der Chauffeure. Der Schuster hat
mir innerhalb 24 Stunden zu verabredeter Zeit meine Schuhe zu angemessenem von
der Organisation festgesetzten Preis geliefert, der Uhrmacher dito meine Uhr,
deren Glas zerbrochen war. Also kein Grund zum Schimpfen.
Auch im Büro ist der Ton durchaus nett und europäisch, gar nicht verschieden
von dem, was man aus Europa kennt. Vielleicht netter im Umgang aller zu allen,
aber es wird ebenso heftig gearbeitet wie überall. Die Arbeit ist eben, weil
es keinen Ärger gibt, sehr angenehm. Kommen Fehler vor — was bei der
schwierigen, täglich neuen Materie sich nicht vermeiden läßt — so erhält
niemand deswegen einen Krach, sondern es wird offen und sachlich besprochen,
ohne Vorwurf in der Stimme von seiten des Chefs. Daß im Büro nicht alles so
klappt, wie es soll, daß ziemlich viel Leerlauf ist, daß manche Sachen nicht
weiterkommen — all das stimmt. Aber womit es zusammenhängt, habe ich noch
nicht heraus. Denn die Angestellten sind alle durchaus über Durchschnitt.
Vielleicht stimmt es, was mir hier alle Bekannten sagen: der Jude könne nicht
organisieren. Das habe ich schon von den verschiedensten Seiten gehört. Und
dann behaupten alle Leute, die seit längerer Zeit hier geschäftlich arbeiten:
Die Juden seien viel dümmer als ihr Ruf. Ob diese beiden Behauptungen
zutreffen — das zu beurteilen, bin ich zu neu. Den Eindrücken nach habe ich
keine Anhaltspunkte für beide Thesen.
Klima ist eine Sache, die sich erst im
Sommer herausstellen wird. Bis jetzt hatten wir wechselndes Wetter. Auch
innerhalb eines Tages wechselt es stark. Man friert morgens und abends,
schwitzt mittags, das ist der natürliche Gang, und da hilft kein ewiges
Umkleiden dagegen. Deswegen kleidet man sich eben nicht um, sondern friert und
schwitzt. Aber erkältet war ich trotzdem noch nicht. Am letzten Freitag
allerdings war ich ganz unglücklich. Mittags brannte die Sonne derart, daß ich
nur mit Schaudern an die fünf Monate Hitze, die noch vor mir liegen, denken
konnte. Abends hatte ich einen schmerzhaft trockenen Hals, Gliederschmerzen,
war unglaublich nervös, und war fest der Meinung, daß eine Angina im Anzug
wäre. Und als ich am nächsten Tag darüber klagte, lachte man: das sei kein
Wunder bei diesem Chamsin. Das war das erste Mal, daß ich körperlich einen
Chamsin gespürt habe. Ich vertrage ihn also doch nicht. Denn bis dahin hatte
ich geprahlt, ich spüre ihn nicht. Sowie es hier nämlich schwül, windstill
oder drückend ist, sowie einer Kopfschmerzen hat oder nervös ist, sofort
nicken drei weise Leute mit ihren Köpfen und behaupten: a) es sei Chamsin, b)
es sei Chamsin gewesen, c) es käme Chamsin. Nach diesen Behauptungen gibt es
mindestens dreimal in der Woche Chamsin. Ich hatte mir immer eingebildet,
Chamsin sei ein Sandsturm aus dem Osten, aus der Wüste. Anscheinend ist es
aber eine Windstille aus dem Osten — mir unverständlich.
So, die Zeit ist um, man muß arbeiten. Eines muß ich Euch noch sagen: Man ist
hier gar nicht neugierig auf europäische Neuigkeiten. Man drängt sich nicht
nach Zeitungen, findet man mal eine, so sieht man nur die Überschriften an.
Man zerbricht sich nicht den Kopf über zukünftige Dinge. Denn das ganze Europa
liegt wirklich im geistigen Abstand ebenso weit von einem entfernt wie nach
Kilometerzahl.
I.
Quelle: Jeruschalajim, den... Briefe
junger Menschen schildern Erez Israel. Gesammelt und herausgegeben von Rudolf
Melitz, Berlin 1936.
hagalil.com
01-05-08
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