Innenansicht:
Der blinde Fleck der israelischen
LinkenVon Matan Kaminer
Seit dem Beginn meiner politischen Tage
wusste ich, was falsch läuft in der israelischen Linken. Mein Wissen war keine
einzigartige Begabung: fast alle von uns wissen, das grundlegende Problem der
israelischen Linken die Trennung zwischen ihr und den arbeitenden Massen.
"Überall auf der Welt", sagen wir uns, "unterstützen die Armen und die
ArbeiterInnen die Linke. Nur hier in Israel unterstützen die armen Jüdinnen
und Juden - die Misrachim (1) und die Russen - die Rechte, die sie immer
wieder verarscht."
Dieses grundlegende Problem wurde schon
unterschiedlich analysiert. Es gibt natürlich die überhebliche und
rassistische Attitüde (die sich, außer wenn wir Radikale uns selbst täuschen
wollen, nicht auf den zionistischen Teil der Linken beschränkt), die
ausgeklügelte und verdrehte Formen findet, um zu sagen, dass die Armen blinde
und indoktrinierte Wilde sind. Das Spiegelbild dieser Attitude ist die, der
Linken selbst die Schuld an allem zu geben: Wir sind überhebliche Aschkenasim,
warum sollen sie auf uns hören? An dieser Selbstkritik ist etwas Wahres dran,
aber in ihrem Kern versteckt sich eine Annahme, die nicht weniger rassistisch
ist, nämlich dass die einfachen Leute ihre Meinungen nicht aufgrund von
Prinzipien oder Interessen bilden, wie rationelle Menschen das tun; sie
unterstützten vielmehr Politiker, die wissen, wie man "ihre Sprache spricht",
mit anderen Worten: ihnen schmeichelt und sie belügt.
Andere, vor allem in der radikalen Linken, kommen der Wahrheit ein Stück
näher, wenn sie der israelischen Linken vorwerfen, "gar keine Linke" zu sein.
Normalerweise meinen sie damit, dass die zionistische Linke nicht wirklich die
Gleichheit zwischen Juden/Jüdinnen und Araber/innen fordert, und nicht
wirklich sozialistisch oder überhaupt sozialdemokratisch ist (obwohl sie oft
so tun). Diese Kritik ist korrekt, aber sie beantwortet zwei Fragen nicht:
Warum gibt diese "Linke" sich die Mühe, sich so zu nennen? Und warum hat die
echte, radikale Linke, für die diese Kritik nicht gilt, nicht mehr als
gelegentliche und vorübergehende Erfolge im Proletariat?
Wir haben ein Werkzeug, um diese Fragen zu beantworten: Den historischen
Materialismus, eine Herangehensweise, die historische Phänomene als primär
durch materielle Interessen bedingt sieht, und nicht durch Ideen, Gebräuche,
Vorurteile oder Kultur. Doch erstaunlicherweise bieten selbst die
Hardliner-Materialisten der israelischen Linken, die Marxisten, normalerweise
keine materialistische Analyse des Verhältnisses zwischen der israelischen
Linken und dem jüdisch-israelischen Proletariat. Warum? Haben wir Angst vor
den Antworten, die wir finden werden?
In seinem Artikel "Profits or Glory" (2) liefert Yoav Peled eine
materialistische Arbeit. Er lehnt die konventionellen, idealistischen (3)
Erklärungen ab, die die Unterstützung der Misrachim für die Rechte entweder
durch deren Wunsch erklären, sich für die "Beleidigung", die ihnen MAPAI (4)
in den 50ern zugefügt hat, zu "rächen" oder "zu ihren jüdischen Wurzeln
zurückzukehren", oder auch durch ihre "genauen Kenntnisse über die AraberInnen".
Wenn israelische ArbeiterInnen, in der Mehrheit, die rassistischsten,
rechtesten, bösesten Politiker unterstützen, müssen sie wohl ein Interesse
daran haben.
Der Gedanke hat etwas Schreckliches an sich, für die radikale Linke mehr als
für sein zionistisches Gegenstück. Liegen wir komplett falsch mit unserer
Losung, "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" ? Sind die Interessen der
jüdischen Massen nicht identisch mit denen der arabischen Massen? Könnte die
Kluft zwischen "Jüdischen AraberInnen" (5) und "arabischen AraberInnen" - eine
Kluft, die die aschkenazische radikale Linke oft als oberflächlich betrachtet
-, viel tiefer sein, als wir glauben möchten?
Die Antwort ist ja. Unser ersehnter Frieden wäre ein Disaster für das jüdische
Proletariat. Der einzige Grund, warum diese ArbeiterInnen nicht unter
ähnlichen Bedingungen leben wie ihre KlassengenossInnen in Kufr Manda (6),
Marrakech, Novosibirsk oder Bagdad ist der, dass sie Juden/Jüdinnen sind. Und
so sehr ihre Lebensbedingungen sich in den letzten Jahren auch verschlechtert
haben (und das haben sie sich, drastisch), dieses Privileg ist nach wie vor
bedeutend. Woher kommt dieses Privileg? Ist es Produkt einer jüdischen
Gesellschaft der Solidarität, die ihre ärmsten Mitglieder an erste Stelle
stellt?
Natürlich nicht. Israel ist eine kapitalistische Gesellschaft, wenn auch keine
typische. Die israelische Wirtschaft basiert auf und wird finanziert durch die
Besatzung und ihre Rolle als Vorhut des Imperialismus im Nahen Osten. Ein paar
Einzelstatistiken, um diesen Punkt zu beweisen: Der einzige Sektor der
israelischen Wirtschaft, der zur Jahrtausendwende neue Arbeitsplätze schaffen
konnte, war die Sicherheit; 40% der Drusen (7) arbeiten im Sicherheitssektor
(öffentlich und privat).
Die israelische Bourgeoisie und ihr Schirmherr, die globale Bourgeoisie, sind
gezwungen, dem jüdischen Proletariat einen Bonus zu gönnen, damit es vom
ewigen Krieg, zu dem es einberufen wurde, nicht desertiert. Dieser Bonus hat
kulturelle Aspekte, denen die Linke viele Aufmerksamkeit geschenkt hat (etwa
die nationalen Symbole und der Status der Judaismus als Staatsreligion). Aber
wichtiger ist der wirtschaftliche Aspekt, der sich zum Beispiel ausdrückt in
der Diskrimierung auf dem Arbeitsmarkt und in der Karriereleiter in der Armee
(was mehrere Misrachim zu obersten Stellen in der Regierung geführt hat).
Jüdische ArbeiterInnen sind die Nutznießer der legalen Diskrimierung, welche
Veteranen begünstigt bei Sozialleistungen und Wohnungen (8), sowie des
staatlich unterstützten Lifestyles der Siedlungen in den besetzten Gebieten
und anderen Orten, die nur für Juden/Jüdinnen sind.
Nun gibt es andere Teile der israelischen Bourgeoisie, die einen
palästinensischen Staat und zivile Gleichheit in Israel unterstützen (manche
von ihnen wie der Ha'aretz-Herausgeber Amos Shocken sind ziemlich radikal
dabei). Sie handeln auch aus Eigeninteresse. Ihr Interesse besteht darin, die
(wenigen) Privilegien zu zerstören, die das jüdische Proletariat geniesst, für
die sie viel bezahlen müssen. Diese Teile, geführt vom "Sozialdemokraten"
Yossi Beilin und anderen, stehen momentan nicht an der Spitze – wahrscheinlich
wegen der bedingungslosen Unterstützung, die die US-Regierung in letzter Zeit
den Falken der israelischen Bourgeoisie angedeihen lässt. In diesem Kampf
zwischen zwei Sektoren der Bourgeoisie (der einzig mögliche Kampf in einer
liberalen Demokratie) unterstützt das jüdische Proletariat diejenigen, die es
etwas weniger verarschen.
Heißt das also, dass unsere Anerkennung von Marx' philosophischem Erbe - dem
historischen Materialismus - uns zur Ablehnung seines politischen Slogans,
"Proletarier aller Länder, vereinigt euch", zwingt? Ich glaube nicht. Es ist
nun lange her, seitdem Lenin die Notwendigkeit begriff, "unterdrückte Völker"
zu diesem Slogan hinzuzufügen. Die Bourgeoisie ist leider nicht dumm. Sie
versteht sehr gut, dass sie Ressourcen aufbringen muss, um das System durch
die Schaffung von Mittelschichten auf nationaler Ebene zu stabilisieren. Doch
die grundlegende Dynamik des Kapitalismus liegt außerhalb der Kontrolle der
Bourgeoisie, und eben diese Dynamik erodiert das Fundament der Pyramide und
schafft instabile und gefährliche Situationen.
Der Kapitalismus braucht kurzfristige Profite. Diese fallen aber tendenziell.
Gruppen der Bourgeoisie, die nicht bereit sind, Risiken einzugehen und Kosten
zu sparen (auch die Kosten der stabilisierenden sozialen Bestechungen) werden
früher oder später zur Seite geschoben durch abenteuerlichere Gruppen. In der
heutige Welt regiert der abenteuerliche Teil der US-Bourgeoisie. Dieser
unterstützt sein israelisches Gegenstück; aber diese Bourgeoisie, in einer
interessanten Umkehrung, hat tatsächlich ein Interesse daran, die lokale
Pyramide der Klassenbestechung aufzustocken, was für den fortgesetzten
Kriegszustand in unserer kleinen Gemeinschaft entscheidend ist. Das
internationale Fundament der Pyramide wird ausgehöhlt, was die
Aufrechterhaltung des jüdisch-israelischen Fundaments erfordert.
Doch die Pyramide höhlt sich in unseren Teilen ebenfalls aus, schnell genug um
die Wut der Unterschichten hervorzurufen. Peled argumentiert, der Staat
entschädigt die Bourgeoisie für den Mangel an Friedensgewinnen durch Kürzungen
der Sozialausgaben und Umverteilung des Reichtums zugunsten der Reichen. Das
jüdische Proletariat erkennt die sich verschlechternde Situation und weiß, wer
daran Schuld ist: die linke Bourgeoisie, die sein Blut saugen darf als
Gegenleistung dafür, dass man keinen Frieden bekommt. Hier haben wir ein
Albtraumszenario: die jüdischen Armen erkennen, dass Scharon sie verlassen hat
(das Wort "Verräter" klingt relevanter als je zuvor) und gehen in Scharen zur
extremen Rechten über. Doch die extreme Rechte gefährdet direkt die
fundamentalsten Interessen der israelischen Bourgeoisie, deshalb wird sie nie
an die Macht kommen (bzw. wird an die Macht kommen, und sofort in eine
moderate Rechte verwandelt werden). Das jüdische Proletariat ist gefangen: So
lange es die Strategie wählt, für das Weiterbestehen seiner ethnischen
Privilegien zu kämpfen, hat es keine andere Wahl als sich mit der lokalen und
globalen Bourgeoisie zu verbünden, die die Waffen für den Krieg liefert.
Und was ist mit uns? Was ist mit uns Linken, die die Besatzung ablehnen und
zivile, aber auch wirtschaftliche Gleichheit fordern, und uns selbst als
"radikale Linke" bezeichnen? Wer sind wir und was ist unser Interesse? Trotz
unseres öffentlichen Image sind wir meistens keine reichen Leute. Wir sind
sicher nicht "bürgerlich" im marxistischen Sinn (obwohl das Wort, wie es in
der israelischen Kultur verwendet wird, uns ganz gut beschreibt (9)).
Nichtsdestotrotz, die Juden/Jüdinnen unter uns (und, in geringerem Maß, die
AraberInnen ebenfalls) sind auch keine ProletarierInnen. Unsere Zahlen sind am
höchsten in spezifischen Sektoren der Mittelschichten, vor allem in den
Berufen, die eine breite Bildung erfordern (Jura, Journalismus, Literatur).
Eine hohe Konzentration von Linksradikalen lässt sich dort finden, wo uns
jeder Materialist erwarten würde, wo wir von unseren Prinzipien leben können,
in Nichtregierungsorganisationen. Andere Konzentrationen von Linksradikalen
lassen sich in Bereichen mit hoher internationaler Mobilität finden, in
Bereichen also, wo man sich eher dem internationalen Konsens als dem lokalen
anpassen soll (AkademikerInnen sind hierfür das beste Beispiel). Eine
Minderheit innerhalb unserer Minderheit stellen diejenigen dar, die "nichts zu
verlieren haben", die Deklassierten, die aus ihren Gemeinschaften
hinausgeschmissen wurden (etwa Queer-Leute aus religiösen Gemeinschaften) und
eine neue, pluralistische Heimat in der radikalen Linken gefunden haben.
Die Klassenzusammensetzung der radikalen Linken ist ein Thema, über das wir
nicht gerne reden. Vielleicht ist das der Grund, dass wir uns selbst
fantasierend als "freie Subjekte" betrachten. Andere mögen nach ihren
Interessen handeln - aber wir sind von unserer Moral geführt! Wir geben ungern
zu, dass, obwohl wir vielleicht moralischer sind als andere, wir das nicht
sind wegen irgendeiner uns eigenen, wesentlichen Qualität, sondern wegen
unserer sozialen Stellung.
Wollen wir effektiv sein, dann kommen wir nicht um diese Diskussion herum. Die
anderen Schwierigkeiten, die wir bei der Kontaktaufnahme mit dem Proletariat
haben, werden verschlimmert durch die Klassenteilung, die uns tiefer trennt
als die ethnischen Unterschiede. Es kann sein, dass wir "zu den Massen gehen"
müssen, wie Radikale der Mittelschichten es an anderen Orten, zu anderen
Zeiten gemacht haben. Doch solche Aktivität kann auch das Ergebnis externer
Prozesse sein, die im Moment nicht vorhanden sind. Sicher wollen die meisten
von uns nicht auf Studium und Karriere verzichten, um in Mitzpeh Ramon (10) zu
leben, für den Lebensunterhalt Fussböden zu wischen und die Arbeiterklasse zu
organisieren.
In diesem Fall, sollten wir aufgeben, nach Hause gehen, emigrieren, uns
terroristischen Organisationen anschliessen? Sollen wir unser Zelt im Lager
der anständigeren Teile der lokalen Bourgeoisie aufstellen? Ich habe
vielleicht keinen allzu guten Grund, diese Vorschläge abzulehnen. Ich bin kein
Pessimist, nicht weil ich irgendwelche "objektiven" Beweise habe, die mich zum
Optimismus führen, sondern weil ich weiß, dass der Pessimismus der Radikalen
ein Geschenk an unsere Feinde ist. Der revolutionäre Optimismus ist keine
Blindheit gegenüber der deprimierenden Realität, sondern die ständige Suche
nach Brüchen und Rissen, so klein sie auch sein mögen, die sich öffnen und zum
revolutionären Wandel führen können.
Diese Risse existieren tatsächlich. Um sie zu finden, müssen wir uns klar
werden, dass Interessen keine absoluten, unveränderlichen Fakten darstellen.
Wir haben bereits gesehen, wie die Bourgeoisie ex nihilo ein Interesse unter
einer Gruppe von ArbeiterInnen schaffen konnte, eine andere Gruppe von
ArbeiterInnen zu töten; und wir haben den inhärenten Widerspruch in diesem
Interesse auch gesehen. Individuen und Gruppe mögen widerstreitende,
widersprüchliche Interessen haben, die nebeneinander existieren, wie wir es
alle aus dem Alltag kennen. In einer Gesellschaft, die derartig mit
Widersprüchen geprägt ist wie der Kapitalismus, hat jede/r mindestens ein paar
widerstreitende Interessen: Einerseits würde jede/r von uns von der
Abschaffung eines Systems profitieren, das zur Zerstörung der Menschheit
innerhalb unserer Lebenszeit führen könnte; anderseits könnten die repressiven
Mittel, die diesem System zur Verfügung stehen, uns leicht töten, wenn wir uns
widersetzen, oder zumindest unser Leben sofort in eine Hölle verwandeln.
Es gibt unterschiedliche Arten von Interessen: langfristige und kurzfristige,
offene und verstecke, vorübergehende und notwendigere. Das System, das unser
Leben kontrolliert, betont spezifische Interessen und bedeckt andere, wie ein
Spielfeld, das durch Linien geteilt ist. Die Menschen, die das System
kontrollieren, zeichnen diese Linien, und sie zeichnen sie auf einer Art, die
für sie vorteilhaft ist, abgesehen von bestimmten Grenzen, die sie nicht
kontrollieren können. Doch ihr Feld ist nicht ewig, und wenn seine Linien in
starken Widerspruch mit den Interessen anderer oder mit diesen Grenzen
geraten, kann das ganze Spielfeld in sich zusammenbrechen.
Die Interessen, die ich an dieser Stelle beschrieben habe, sind nicht die
einzigen Interessen der jüdischen Arbeiterklasse in Israel. Es sind ihre
Interessen, so lange sie in unserer ethno-liberaler Demokratie gefangen
bleibt; es sind ihre Interessen gegenüber den wichtigen Spielern auf dem Feld,
wie es heute definiert ist. Aber sie hat auch andere Interessen: Sie hat ein
Interesse daran, die Tötungen, Verletzungen und mentalen Narben, die sie
während Polizeioperationen in den besetzten Gebieten oder durch terroristische
Angriffe bekommt, zu stoppen. Sie hat ein Interesse an Arbeit, die
befriedigender, gesünder und produktiver ist als über den Reichtum anderer zu
wachen. Die Misrachim-Mehrheit hat ein Interesse an einem Ende der
Unterdrückung gegen die arabische Kultur ihrer Vorfahren. Die russiche
Mehrheit hat - ein Teil davon ist nicht jüdisch nach religiösem Gesetz - ein
Interesse an ziviler Gleichheit. Die gesamte Klasse hat ein Interesse daran,
sich nicht um die falsche Flagge der Nation sondern um die echte Flagge der
Klasse zu sammeln. Auf lange Sicht hat diese Klsse ein Interesse daran,
Israels gefährlichen Status als imperialistischen Keil im Nahen Osten zu
ändern, um sich mit ihren arabischen Geschwistern zusmmenzutun, in einer
Revolution gegen den Kapitalismus und die Kriege des Kapitals.
Diese Interessen sind weniger unmittelbar und materiell wie das Gefühl, dass
eine Misrachi-Teenagerin in Ha'aretz (11) beschreibt: "Ich bin froh, dass ich
Jüdin bin, denn mein Jüdisch-Sein stellt mich auf die richtige Seite ... ich
bin froh, dass auf meinem Ausweis nicht "jüdische Araberin" steht, denn Araber
zu sein ist schlimmer. Misrachi ist noch jüdisch, obwohl es Misrachim gibt wie
Sand am Meer." Doch wenn wir weiterhin an der Tür der Arbeiterklasse klopfen,
finden wir vielleicht manche ZuhörerInnen unter ihren weitsichtigsten
Mitgliedern. Das haben wir in der Vergangenheit schon geschafft.
Unsere Stellung als radikale Israelis, die mit dem jüdischen Proletariat in
Dialog kommen wollen, ist sehr schwierig, und deshalb ist unsere Zahl so
gering. Doch unsere Haltung ist die einzige, die das langfristige, gemeinsame
Interesse der meisten Menschen, die hier leben, vertritt – aus diesem Grund
ist unser Weiterbestehen notwendig. Es ist wichtig, dass wir verstehen, welche
unserer Interessen uns daran hindern, stärkere Bindungen zum jüdischen
Proletariat zu schaffen, und es ist wichtig, das wir es trotz alledem weiter
versuchen. Es ist wichtig, dass wir weiter Wissen sammeln und schaffen bis zum
dem Moment - der vielleicht tatsächlich nie kommen wird – in dem unsere Hilfe
unerlässlich wird.
Nachwort, Mai 2006
Die Zukunft wird zeigen, ob die Wahlen im
März 2006 einen Wendepunkt oder einen Zufall darstellen. Die Wahlbeteiligung
war die niedrigste in der Geschichte, doch auf der anderen Seite scheint es
eine qualitative Änderung gegeben zu haben. Fragen, die mit dem Konflikt zu
tun haben, haben die israelische Wahlpolitik immer dominiert, aber nun haben
Parteien, die ihre Kampagnen auf soziale Fragen konzentrierten - d.h. die
Parteien, die behaupten, sich neoliberaler Politik zu widersetzen - unerwartet
gut abgeschnitten. (12) Es wird sich zeigen, ob das einen Einfluss auf die
herrschende Koalition hat, aber es könnte Zeichen eines Wandels sein in der
Machtbilanz zwischen den Partnern im historischen Block, der Israel regiert,
formiert aus der lokalen Bourgeoisie und Mittelschichten, dem militärischen
Establishment und der jüdischen Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse und die
Mittelschichten haben vielleicht, durch ihre Stimmen, der Erosion der
Sozialsysteme ein Ende gesetzt. Durch das weitere Fehlen eines
"Friedensgewinns" ist es unklar, woher die Bourgeoisie ihre Profite bekommen
wird. Bezogen auf die Risse, nach denen RevolutionärInnen suchen müssen, ist
diese Situation ermutigend, denn es bedeutet die Destabilisierung dieses
historischen Blocks.
Der Artikel erschien am 20.06.2006 bei
Indymedia. Matan Kaminer ist ein junger Sozialist, aufgewachsen in den USA und
Israel. Er war fast zwei Jahre im Knast, weil er den Kriegsdienst in der
israelischen Armee verweigert hat. Quelle:
http://www.trend.infopartisan.net
Übersetzung aus dem Englischen: Wladek Flakin
Anmerkungen:
(1) Misrachim (wörtlich: "Östliche") sind Juden/Jüdinnen, deren
Familienherkunft aus dem Nahen Osten ist. Aschkenazim (wörtliche: "Deutsche")
sind Juden/Jüdinnen europäischer Herkunft, aber neue EinwandererInnen aus der
ehemaligen Sowjetunion werden in der Regel kollektiv als "Russen" bezeichnet
und gehören nicht zu den Aschkenazim.
(2) New Left Review 29, September-Oktober 2004
(3) Im philosopischen Sinn, also "nicht materialistisch"
(4) Die Arbeiterpartei des Landes Israel, hegemonisch in der israelischen
Gesellschaft bis 1977; der direkte Vorgänger der heutigen Labor-Partei.
(5) d.h. Misrachim, deren Vorfahren in arabischen Ländern sich als "jüdische
AraberInnen" verstanden haben, die neben christlichen und muslimischen
AraberInnen gewohnt haben - zumindest laut Theorien, die in der israelischen
Linken modisch sind.
(6) ein palästinensisches Dorf in Israel.
(7) Mitglieder einer einheimischen religiös-ethnische Gemeinschaft, die in die
israelische Armee einbezogen wird seit den 50er Jahren und eine
Zwischenposition zwischen Juden/Jüdinnen und AraberInnen innehat. Entsprechend
gelten meine Argumente übr die jüdische Arbeiterklasse zum Teil auch für die
Drusen Israels.
(8) Menschen, die aus religiösen Gründen nicht einbezogen werden (d.h.
Juden/Jüdinnen) können auch viele dieser Leistungen beziehen.
(9) Z.B. das populäre und sozialkristische Fernsehdrama in Israel "HaBurganim"
("Der Bürgerliche") erzählt von den Leben einer Familie, die jede/r MarxistIn
zweifellos den unteren Mittelschichten zurechnen würde.
(10) Ein armes Industriedorf im Süden Israels, Heimat der alleinerziehende
Mutter und soziale Aktivistin Viki Knafo.
(11) Ha'aretz Wochenendbeilage, 5. Oktober 2005
(12) Interessanterweise sind es vielleicht die Mittelschichten, die die Bilanz
gekippt haben. Shinui ("Veränderung"), eine rein neoliberale Partei, ist
komplett verschwunden, ersetzt durch die nicht-neoliberale, neue
Rentnerpartei, die 7 Sitze bekommen hat. Vielleicht ist es die zunehmende
Präkarität dieser Klasse, die den Wandel provoziert hat. |