1965: Ein neues Kapitel beginnt
Mit dem gegenseitigen Austausch von
Botschaftern begann 1965 ein neues Kapitel in den deutsch-israelischen
Beziehungen. Was jahrelang ein "Privileg" linker und christlicher Studenten
gewesen zu sein schien, fand nun allmählich breitere Akzeptanz: Begegnungs-
und Bildungsreisen, Arbeitseinsätze in Kibbuzim und private Kuraufenthalte am
Toten Meer. Im Frühjahr 1967 verschärfte sich der Konflikt zwischen Israel und
den Arabern in gefährlicher Weise: Trotz des Waffenstillstands von 1949 hatten
Israels Nachbarn den Willen nicht aufgegeben, das "zionistische Gebilde" zu
zerstören. Im Mai 1967 wurden die Israelis unter Ministerpräsident Levi
Eschkol mit einer gefährlichen Aufmarsch- und Umklammerungsstrategie
konfrontiert. Die israelfeindliche Propaganda gipfelte im Schlachtruf: "Wir
werden die Juden ins Meer treiben!" Wen wundert’s da, dass Israel keine andere
Wahl sah, als den kollektiven Drohgebärden mit einem Präventivschlag
zuvorzukommen?
Als am 5. Juni 1967 der Nahostkrieg ausbrach, machte sich in Deutschland-West
eine beispiellose proisraelische Aufbruchstimmung breit. Israels Existenz
schien auf der Kippe zu stehen; weite Teile der bundesdeutschen Gesellschaft
wurden von einer Welle der Sympathie für den jüdischen Staat erfasst.
Allerorten kam es zu spontanen proisraelischen Demonstrationen und
Spendensammlungen; etwa 3.000 Freiwillige boten Israel ihre persönliche Hilfe
an. Diese Stimmungslage trug entscheidend zur Klimaverbesserung in den
Beziehungen beider Länder bei.
Krisen und Konflikte
Doch die deutsch-israelische Romanze sollte
nicht lange währen: Während große Teile der radikalen Linken schon kurz nach
den triumphalen israelischen Kriegserfolgen die Fronten wechselten und den
jüdischen Staat nur noch als "Brückenkopf des US-Imperialismus" wahrnehmen
wollten, zogen dunkle Wolken bald auch über die offiziellen Beziehungen
herauf:
Der PLO gelang es Ende der 1960er Jahre, mit Terroranschlägen und
Flugzeugentführungen das Interesse der Weltöffentlichkeit auf die unglückliche
Lage der Palästinenser zu lenken. 1972 wurde auch die Bundesrepublik vom
Terror heimgesucht: Palästinensische Kämpfer des "Schwarzen September", die
einer Untergruppe des PLO-Vorsitzenden Arafat angehörten, ermordeten während
der Olympischen Sommerspiele in München elf israelische Sportler. Als kurz
darauf eine Lufthansa-Maschine in die Hände palästinensischer Entführer
geriet, gab die Bundesregierung im Gegenzug zur Freilassung der Passagiere die
drei überlebenden Mörder von München heraus. Die Israelis waren schockiert
über das "leichtfertige" Nachgeben der deutschen Regierung.
Zudem sollte sich bald zeigen, wie schnell die aktuellen Wirtschaftsinteressen
der Bundesrepublik mit der moralischen Verantwortung für die Existenz Israels
in einen Konflikt geraten konnten: Die Stimmung verschlechterte sich, als
einige arabische Staaten im Zuge ihres Überfalls auf Israel im Oktober 1973 (Jom
Kippur-Krieg) ihr Erdöl als politisches Mittel gegen die energiehungrige
westliche Welt einsetzten. Unter der Wucht der "Ölwaffe" untersagte die
Bundesregierung den USA, Waffen an das bedrängte Israel zu liefern, die aus
Beständen von US-Depots stammten, die in West-Deutschland gelagert waren –
entsprechende Unterlassungsforderungen hatte die Bundesregierung allerdings
erst gut zwei Wochen nach Kriegsausbruch erhoben, als der Krieg bereits
entschieden war und Israel keine Gefahr mehr drohte. Dennoch: Heftige
israelische und amerikanische Reaktionen waren die Folge; die US-Regierung
drohte mit einer "Überprüfung" ihrer Politik gegenüber der Bundesrepublik.
Auf einen Tiefpunkt steuerte das deutsch-israelische Verhältnis im Frühjahr
1981 zu, als Bundeskanzler Helmut Schmidt und Ministerpräsident Menahem Begin
hart aneinander gerieten: In einem Fernseh-Interview nach einer
Saudi-Arabien-Reise hatte Schmidt auf eine Reihe europäischer Völker
verwiesen, deren Leiden im Zweiten Weltkrieg bis heute eine moralische Last
für die deutsche Außenpolitik darstellten. Dass Schmidt es unterlassen hatte,
auch die Leiden der Juden beim Namen zu nennen, stieß in Israel auf
Fassungslosigkeit, zumal der Kanzler in der selben Sendung dem
palästinensischen Volk einen "moralischen Anspruch auf Selbstbestimmung"
bescheinigt und dem jüdischen Staat eine "Tragödie griechischen Ausmaßes"
vorausgesagt hatte. Begin, der sich mitten im Wahlkampf befand, konterte
gekränkt gegen die "Arroganz" jenes ehemaligen Wehrmachtsoffiziers Schmidt,
von dem man nicht wisse, "was er mit den Juden an der Ostfront getan" habe.
Begins harscher Tonfall setzte in der Bundesrepublik eine breite
Solidarisierungswelle mit dem Kanzler frei – zum ersten Mal in der Geschichte
der Bundesrepublik stellte sich eine Mehrheit der Deutschen im Nahostkonflikt
auf die Seite der Araber. Doch die spontane Flut zum Teil sogar antisemitisch
akzentuierter Sympathieerklärungen aus der Bevölkerung hinterließ auch in
deutschen Regierungskreisen Unbehagen. Politische Beobachter führten den
politischen Kern der persönlichen Fehde auf die Absichten Schmidts zurück,
Panzer des Typs "Leopard II" nach Saudi-Arabien zu liefern. Trotz Begins
Einladung vermochte sich Schmidt nicht mehr zu einem Israelbesuch
entschließen. Gleichwohl: Vor dem Hintergrund anhaltender internationaler und
innenpolitischer Proteste fasste die Bundesregierung im Frühjahr 1982 den
Beschluss, die saudischen Lieferwünsche nicht zu erfüllen.
Die 1980er Jahre – das Jahrzehnt des Historikerstreits um die Einzigartigkeit
der Schoah – setzten die deutsch-israelischen Beziehungen neuen
Belastungsproben aus: Erst der Libanonkrieg, dann der in Israel als nassforsch
wahrgenommene Auftritt von Bundeskanzler Helmut Kohl, der für sich die "Gnade
der späten Geburt" reklamiert hatte, aber auch die oberlehrerhaften Anmaßungen
grüner Außenpolitiker der ersten Stunde erweckten den Eindruck, als ob sich
mehr und mehr Deutsche von der Verantwortung für die Lasten der Vergangenheit
verabschieden wollten. Aus diesen zum Teil missglückten Reisen entstanden
heftige innenpolitische Debatten: Folgerichtig waren seit der zweiten Hälfte
der 1980er Jahre politische Reisen nach Israel von dem Wunsch beseelt, aus
vergangenen Fehlern zu lernen. Zum Teil ein und dieselben Akteure versuchten
jetzt, als "Lernende" in einen kritischen Dialog mit israelischen (und
palästinensischen) Gesprächspartnern zu treten.
Der Fall der deutschen Mauer und der gesamtdeutsche Vereinigungsprozess
1989/90 löste in Israel anfänglich nicht nur Freude, sondern auch diffuse
Ängste vor einem "Vierten Reich" aus: Die Welle fremdenfeindlicher
Gewaltausbrüche, die insbesondere den Osten Deutschlands erschüttern sollte,
schien zunächst die Skeptiker zu bestätigen. Während sich die israelische
Bevölkerung eher gelassen zeigte, waren die politischen Eliten alarmiert – sie
wähnten eine "tödliche Gefahr für die Juden" (so Ministerpräsident Yitzhak
Schamir). Doch nach einigen vertrauensbildenden Maßnahmen – darunter der
deutschen Anerkennung der polnischen Westgrenze und einer gemeinsamen
Israel-Reise der Parlamentspräsidentinnen Rita Süssmuth und Sabine
Bergmann-Pohl – waren im Sommer 1990 die meisten Israelis bereit, inmitten
eines freien Europas auch die positiven Chancen eines wieder vereinten
Deutschlands wahrzunehmen.
Gleichwohl förderte der Golfkrieg im Januar 1991 zutage, wie labil das
deutsch-israelische Verhältnis noch immer war: Als bekannt wurde, dass
irakische Scud-Raketen mit deutscher Expertenhilfe "verbessert" worden waren,
stellte sich bei vielen Israelis die Gedankenverbindung "Deutsche – Gas –
Juden" ein. Zudem begann die deutsche Justiz erst aufgrund journalistischer
Recherchen gegen einzelne Rüstungsexporteure tätig zu werden. Weil viele
deutsche Protestler mehr mit ihren eigenen Zukunftsängsten beschäftigt waren
als mit der Situation jener mit ABC-Waffen bedrohten Menschen in Israel, wurde
in der israelischen Öffentlichkeit der Verdacht genährt, nunmehr einer
israelfeindlichen Phalanx aus Rüstungsindustrie und Friedensbewegung
gegenüberzustehen, die der israelischen Seite das Recht und die Möglichkeit
auf Selbstverteidigung beschneiden wolle.
Die Rolle des Nahostkonflikts im
deutsch-israelischen Verhältnis
Mit der Neugründung Israels 1948 realisierte
die zionistische Bewegung nach 2.000 Jahren der Vertreibung aus ihrer
biblischen Urheimat den nationalstaatlichen Traum des jüdischen Volkes – dies
freilich in einer Region, die inzwischen mit gleichem historischem Recht von
der arabisch-palästinensischen Nation beansprucht wird. Gleichwohl hatten "die
Palästinenser" bis in die frühen 1970er Jahre im deutsch-israelischen
Verhältnis so gut wie keine Rolle gespielt. In der Wahrnehmung aller
Beobachter, ja selbst der unmittelbar Beteiligten, drückte sich im
Nahostkonflikt über viele Jahre ein erbitterter Gegensatz zwischen Israel und
"den Arabern" aus. In der Tat waren die Akteure der Nahostkriege von 1948/49,
1956, 1967 und 1973 stets Israel und arabische Staaten gewesen – die
Palästina-Araber tauchten am Rande als "arabische Flüchtlinge" auf; ihr Elend
wurde als ein humanitäres, nicht aber politisches Problem begriffen.
Erst unter dem Eindruck palästinensischer Flugzeugentführungen und anderer
Terroranschläge sowie im Zeichen des Einsatzes von Rohöl als politischer Waffe
durch die Erdöl exportierenden arabischen Staaten öffnete sich in den 1970er
Jahren die Öffentlichkeit für palästinensische Bestrebungen: Waren die
Palästinenser indirekt und sekundär nicht auch zu Opfern des mörderischen
Judenhasses der Nazis geworden, der viele der vertriebenen und überlebenden
Juden nach Palästina getrieben hatte? Mussten sich die Deutschen nicht auch
für das unglückliche Schicksal der Palästinenser mitverantwortlich fühlen, die
einen hohen Preis für die Gründung des jüdischen Staates bezahlt hatten? Gab
es Möglichkeiten, die bleibende deutsche Verpflichtung für die Existenz Israel
sicherzustellen und trotzdem das an den Palästinensern begangene Unrecht
aufzuheben oder wenigstens zu lindern? Wobei für die palästinensische Tragödie
bis heute auch politikunfähige arabische und palästinensische Führungseliten
verantwortlich gemacht werden müssen: Welchem palästinensischen Politiker ist
es jemals eingefallen, der vom unbedingten Überlebenswillen gekennzeichneten
Sicherheitspolitik Israels mit einer politisch-diplomatischen Charmeoffensive
zu begegnen? Oder, um es in den Worten des legendären israelischen
Außenministers Abba Eban zu sagen: "The Palestinians never miss an opportunity
to miss an opportunity."
Im Nachgang zum spektakulären Auftritt Arafats vor der UNO-Vollversammlung
erklärte sich 1974 UN-Botschafter Rüdiger von Wechmar mit dem
"Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes" solidarisch –
überraschenderweise unter Hinweis auf das ebenfalls nicht eingelöste
Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Ost und West. Damit brach die
bundesdeutsche Diplomatie ein bis dahin geltendes Tabu – ein Schritt, der in
Israel mit Empörung aufgenommen wurde. Konnten die Israelis bis zu diesem
Zeitpunkt davon ausgehen, dass die Deutschen aufgrund ihres geschichtlich
bedingten Sonderverhältnisses zum jüdischen Staat – ungeachtet ihrer
offiziellen "Neutralität" – im Zweifelsfall der israelischen Seite zugeneigt
blieben, so war diese Geschäftsgrundlage nun zugunsten einer formal
ausgewogenen deutschen Nahostpolitik aufgegeben. Diese nahostpolitische
Neuorientierung verbitterte die Israelis um so mehr, als die PLO in jenen
Jahren noch nicht zu einer Anerkennung der Existenz Israels bereit war.
Mussten die Israelis darin nicht ein propalästinensisches (sprich:
antiisraelisches) Signal erblicken?
In den 1980er Jahren wurde immer deutlicher, dass es aus dem Dilemma des
deutsch-israelisch-palästinensischen Dreiecks kein Entrinnen gab: Jede
Positionierung musste aus jeweils guten Gründen entweder die Israelis oder die
Palästinenser verärgern. Hin-und-hergerissen zwischen moralischen
Verpflichtungen für die eine oder andere Seite sowie angetrieben von
wirtschaftlichen Begehrlichkeiten und strategischen Interessen in der Nah- und
Mittelost-Region vermied insbesondere die christlich-liberale Regierung Helmut
Kohls jede politische Festlegung im Nahostkonflikt – und konnte so das lang
gehegte Misstrauen der Israelis gegenüber den sozialliberalen
Vorgänger-Regierungen einhegen. Unter dem Schutzschirm der zunehmend wichtiger
werdenden europäischen Außenpolitik verlegte sich die deutsche Nahostpolitik
fortan stärker auf eine Gangart der leisen Töne.
Aus dem Dilemma ihrer Nahostpolitik konnte sich die Bundesrepublik letztlich
erst nach der Wiedervereinigung befreien: Der Osloer Friedensprozess, der 1993
erstmals zu Direktverhandlungen zwischen Israel und der PLO als der
anerkannten Vertretung der Palästinenser führen sollte, befreite die Deutschen
von einem Spagat, der sie in früheren Jahren immer wieder an den Rand
akrobatischer Abstürze geführt hatte. Der Versuch des engagierten und
sachkompetenten Außenministers Joschka Fischer, als smarter Vermittler
zwischen beiden Seiten aufzutreten, mag Deutschland psychologische Pluspunkte
eingebracht haben – aber: "Außer Spesen nichts gewesen" – so lautet auch hier
die nüchterne Bilanz.
Exkurs: DDR und Israel – ein Nichtverhältnis?
Bis kurz vor der Wende 1989 hatte der zweite
deutsche Staat kein Interesse an der Aufnahme offizieller Beziehungen zu
Israel gehabt. Jahrzehntelang betrachteten die Funktionäre des
realsozialistischen SED-Regimes den jüdischen Staat als den Gegner aller
"progressiven" Kreise – als ein Land, das von der "kleinbürgerlichen
Ideologie" des Zionismus beherrscht werde und trotz "formaldemokratischer"
Verhältnisse die "Speerspitze des imperialistischen Lagers" bilde.
Entschädigungszahlungen an das ideologisch "irregeleitete" Israel lehnte die
DDR ab: "Wahre" Wiedergutmachung, so hieß es mit missbilligendem Blick auf die
Bundesrepublik, habe die DDR mit der Errichtung eines "antifaschistischen
Arbeiter- und Bauernstaates" geleistet; die neuen gesellschaftlichen
Strukturen in der DDR hätten zur "Ausrottung von Faschismus und Revanchismus"
geführt. Eine weitergehende Verantwortung lehnte die DDR-Führung ab. Etwaige
Berührungspunkte oder gar Parallelen zwischen Antisemitismus und Antizionismus
wurden empört als "zionistische Propaganda" zurückgewiesen.
Vor dem Hintergrund dieses hermetisch geschlossenen Weltbildes zeigte
umgekehrt auch die israelische Seite kein Interesse daran, offizielle Kontakte
zur DDR aufzunehmen: Achselzuckend mussten die Israelis seit 1950 zur Kenntnis
nehmen, dass die DDR als Teil des realsozialistischen Lagers einseitig Partei
für die arabisch-palästinensische Seite ergriff. Doch wurde mit Bitterkeit
registriert, dass die DDR ihren verbliebenen Spielraum keineswegs zur verbalen
Mäßigung nutzte; vielmehr verlieh sie ihrer antiisraelischen Agitation eine
besondere Schärfe und unterstützte die PLO über viele Jahre politisch,
materiell und personell – bis hin zur Durchführung von Trainingsprogrammen für
palästinensische Kämpfer.
Gleichwohl ist anzumerken, dass die DDR die Existenzberechtigung des jüdischen
Staates auf einer grundsätzlichen Ebene nie in Zweifel gezogen hat. Davon
zeugen insbesondere die regelmäßigen Kontakte und wechselseitigen
Parteitagsbesuche zwischen der SED und ihrer kommunistischen "Bruderpartei" in
Israel. 1984 nahm eine SED-Delegation während einer Israel-Reise sogar
Gespräche mit linkszionistischen Vertretern auf. Hinzu kommt, dass zwischen
1949 und 1990 beide Länder Jahr für Jahr statistisch messbare
Handelsbeziehungen unterhielten – selbst in den konfliktträchtigsten Jahren.
Diese Kontakte bewegten sich freilich abseits offizieller staatlicher
Vereinbarungen und stets auf sehr niedrigem Niveau – selten überschritt der
jährliche Gesamtwert der Handelsgüter mehr als eine Million Dollar.
Spätestens mit der Maueröffnung im November 1989 war in der DDR der Weg frei
für eine kritische Aufarbeitung ihrer Israel-Feindschaft: Das ostdeutsche
Parlament, die "Volkskammer", bekannte noch im April 1990 die
"Mitverantwortung" der Deutschen in der DDR für "Demütigung, Vertreibung und
Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder" und bekundete die Absicht, zur
"gerechten Entschädigung materieller Verluste" beitragen zu wollen: Im
politischen "Schuldbekenntnis" heißt es: "Wir bitten das Volk Israels um
Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik
gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer
Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land." Zur Aufnahme diplomatischer
Beziehungen ist es nicht mehr gekommen – der Beitritt der DDR zur
Bundesrepublik im Oktober 1990 ließ es nicht mehr zu diesem Schritt kommen.
"Gefühle" in den deutsch-israelischen Beziehungen
Die Gefühle der Deutschen gegenüber den
Israelis unterliegen extremen Schwankungen – seit Jahrzehnten. Fast könnte man
meinen, der jüdische Staat und seine Menschen seien ein libidinös besetzter
Fixpunkt: Wohl kaum ein Land ist 1967 während des Sechstagekrieges so
proisraelisch ausgerichtet gewesen wie die westdeutsche Bundesrepublik. Aber
genauso gilt: In keinem Land haben antiisraelische Emotionen derart hohe
Wellen geschlagen wie ausgerechnet in Deutschland. Die ebenso rasche wie
prinzipiell austauschbare Abfolge von Israelbegeisterung, Israelkritik und
Antisemitismus legt den Verdacht nahe, dass Stimmungen dieser Art mehr mit
deutschen Zuständen als mit politischen Turbulenzen im Nahen Osten zu tun
haben: Der Psychoanalytiker Hans Keilson stellt mit Blick auf die 1968er
Generation fest: "Aus dem (jüdischen) Sündenbock war erst der Tugendbock
geworden, beladen mit allen Idealen und Tugenden, die man in seiner eigenen
Geschichte und bei seinen Eltern nicht antreffen konnte, und die Enttäuschung
über die nicht gelungene Projektion eines moralischen Hochstandes – eines
Übermenschen würdig – schuf schließlich den alt-neuen Sündenbock (Israel)."
Eine gefühlsmäßig schwankende Gemengelage ist auch unter Israelis anzutreffen:
Die aus der Schoah rührenden Vorbehalte gegenüber Deutschland und den
Deutschen sind im Unterbewussten präsent und können jederzeit abgerufen
werden. Wann immer sich in Deutschland antiisraelische und antisemitische
Affekte bemerkbar machen, werden Reflexe des Misstrauens gegenüber "den
Deutschen" mobilisiert. Andererseits greifen zunehmend
"Normalisierungstendenzen" um sich. Durchschnitts-Israelis von heute haben
keine Probleme mehr damit, deutsche Produkte zu konsumieren oder nach
Deutschland zu fahren. Viele Israelis sind sich der Tatsache bewusst, dass
Deutschland ein freundschaftlicheres Verhältnis zu Israel unterhält als die
meisten anderen europäischen Länder. Die israelische Öffentlichkeit nimmt
antiisraelische Ressentiments in Europa und Deutschland heute mit mehr
Gleichmut auf als in früheren Zeiten, als israelkritische Stimmen noch leiser
waren. In Zeiten der Globalisierung bestimmt "Deutschland" das "kollektive
Gedächtnis" der Israelis weniger stark als früher – offenbar ist hier ein
pragmatischer Normalisierungsprozess eingetreten.
Die Vergangenheit ist immer noch gegenwärtig
Für die meisten Europäer und Deutsche sind
Terroranschläge vor allem eine Antwort auf politische Missstände und soziale
Ungerechtigkeiten – die Folgen von Verzweiflung, Armut und Unterdrückung. Wenn
man den Terroristen und ihren Milieus Hoffnung gebe und ihre
Lebensverhältnisse verbessere, verhindere man künftigen Terrorismus. Vor allem
einer Lösung des Nahostkonflikts werden wahre Wunder zugetraut: "Wir müssen
die Quellen des Terrorismus verstopfen, und die sind: erstens der
Nahost-Konflikt, zweitens der Nahost-Konflikt, drittens der Nahost-Konflikt"
(so der Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel). Demgegenüber führt die Mehrheit
der Israelis den Terrorismus des 21. Jahrhunderts auf religiöse und
nationalistische Vorurteile sowie auf ideologische Befindlichkeiten wie
Antisemitismus, Fanatismus, Zerstörungswut und Verfolgungswahn zurück.
So kommt es in außenpolitischen Fragen bis heute zu Missstimmungen – aktuell
in der Frage, wie angesichts der antiisraelischen Vernichtungsdrohungen des
Iran die nuklearen Ambitionen des Teheraner Mullah-Regimes gebremst werden
können. Während Deutschland faktisch noch immer eine Politik des "kritischen
Dialogs" pflegt, sieht Israel im iranischen Nuklearprogramm eine strategische
Gefahr für seine Existenz und drängt zu nachhaltigen politischen und
wirtschaftlichen Sanktionen.
Hinter den unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungsmustern stehen
gegensätzliche geopolitische Interessenlagen, aber auch unterschiedliche
Geschichtserfahrungen – sie haben ihre Wurzeln nicht zuletzt in der NS-Zeit:
Viele Deutsche ziehen aus der Schoah die Lehre: "Nie wieder Täter sein – nie
wieder jüdisches und anderes Leben bedrohen!” Viele Juden (gerade auch in
Israel) ziehen aus ein- und demselben Zivilisationsbruch den umgekehrten
Schluss: "Nie wieder Opfer sein – im Notfall lieber zuerst zu den Waffen
greifen!” Wir sehen: Die Vergangenheit ist immer noch gegenwärtig, auch wenn
sich die skizzierte Dichotomie in den letzten Jahren gelockert hat.
Die Rolle der Medien: Kritik und Selbstkritik
Enorme wirtschaftliche Aufbauleistungen,
einzigartige multikulturelle Herausforderungen, künstlerische Leistungen und
andere zivile Entwicklungen in Israel spielen in der täglichen
Berichterstattung deutscher Medien nur eine untergeordnete Rolle. Selbst die
israelische Literatur hat im Lande Goethes und Schillers erst sehr spät
Beachtung gefunden. Während in Israel schon Ende der 1960er Jahre zahlreiche
Werke deutscher Gegenwartsschriftsteller übersetzt worden sind (Heinrich Böll
und Günter Grass), kannte man bei uns bis tief in die 1980er Jahre nur einen
israelischen Autor: den Anfang 2005 verstorbenen Satiriker Ephraim Kishon.
Seit dem Sechstagekrieg von 1967 richtet sich das öffentliche Interesse
vornehmlich auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und
Arabern. Herausragende sportliche Ereignisse, die enormen
Integrationsleistungen Israels zur Aufnahme zyklischer Einwanderungswellen
oder auch nobelpreisverdächtige Erfindungen spielen im Bewusstsein auch vieler
Deutscher nur eine Randrolle – dies, obwohl Israel die weltweit höchste
Korrespondentendichte aufweist. 800 ständige ausländische sowie alljährlich
2.500 "durchreisende" Journalisten sind nicht im Lande, um Leser und Zuschauer
über die Buntheit der israelischen Gesellschaft zu informieren – das Interesse
insbesondere der Heimatredaktionen richtet sich auf militärische Maßnahmen
Israels in den besetzten Gebieten: Sie sind als Nachrichten "attraktiver",
garantieren regelmäßig Schlagzeilen und hohe Einschaltquoten – auch, weil sie
europäische "Obsessionen" bedienen. Hinzu kommt: Westliche Lebensbedingungen,
kurze Wege und bestens ausgebaute Verkehrsverbindungen, neueste
Medientechnologien, geringe Entfernungen zu den Brennpunkten des Konflikts,
eine nahezu schrankenlose Pressefreiheit ohne Zensur oder "Aufpasser" und ein
Heer örtlicher Kameraleute – all diese Aspekte schaffen perfekte
Arbeitsbedingungen. Problematisch wird diese Konstellation, wenn
Nahostkorrespondenten ihre "Kunden" mit scheinbar harmlosen Worten, schiefen
Vergleichen und fragwürdigen Ministatistiken zu einer Parteinahme drängen, die
weniger den Fakten als vielmehr Projektionen oder weltanschaulichen
Überzeugungen geschuldet sind:
Was meine ich konkret? Als die israelische Armee 1982 in den Libanon
einmarschierte, um die dortigen PLO-Einheiten zu entwaffnen und aufzulösen,
wurde Israel des "Völkermords" an den Palästinensern bezichtigt. Einige
Journalisten gingen so weit, die Palästinenser als die "neuen Juden" zu
bezeichnen und die israelischen Invasoren mit den Nazis zu vergleichen, die
eine "Endlösung der Palästinenserfrage" ansteuerten. Angesichts dieser
Berichterstattung entbrannte in Teilen der Öffentlichkeit eine heftige
Diskussion, inwieweit einseitige und überzogene Formen der Israelkritik
antisemitische Tendenzen widerspiegeln, verstärken oder gar auslösen.
Dieses Szenario wiederholt sich seither in ritualisierter Regelmäßigkeit:
Immer dann, wenn der israelisch-palästinensische Konflikt gewaltsame Bilder
produziert und transportiert, lassen nicht wenige Journalisten überwunden
geglaubten "Bauch"-Gefühlen freien Lauf – und tragen so dazu bei, dass
jahrzehntelange Bemühungen um Aufarbeitung und Aufklärung über judenfeindliche
Stereotypen zunichte gemacht werden. Nach den ehernen Gesetzen der
Mediengesellschaft scheint es moralisch unverzeihlich zu sein, dass die
Israelis, ihren Widersachern technisch weit überlegen, bei
Auseinandersetzungen geringere Opferzahlen als die Palästinenser aufweisen.
Wann immer die israelische Armee gegen Zentren palästinensischer
Terrorangriffe vorgeht, vermitteln Nachrichten und Kommentare Bilder eines
angeblich "biblischen Krieges": "Auge um Auge", "Vergeltungsschläge" und
"alttestamentarische Racheaktionen" – reflexhaft tauchen die alten Klischees
des christlichen Antijudaismus wieder auf.
Umfragen bestätigen: Die Mehrheit der Deutschen sah 2003 auf dem Höhepunkt der
Zweiten Intifada in Israel eine "Gefahr für den Weltfrieden". Israel rangierte
vor fünf Jahren auf der Negativliste noch vor Iran, Nordkorea und den USA.
Mehr als die Hälfte aller Deutschen war 2004 der Auffassung, "dass sich das
Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern grundsätzlich nicht von dem der
Nazis im Dritten Reich gegenüber den Juden unterscheidet" (Heitmeyer, Deutsche
Zustände). Aber auch nach dem Abflauen der Intifada ist das Image Israels
keineswegs besser geworden: Nach einer BBC-Umfrage führte Israel letztes Jahr
die Top-Negativliste auf der Skala der am wenigsten gemochten ("least-liked")
Staaten der Welt an – allein in Deutschland nahmen 77 Prozent aller Befragten
Israel als "negativ" wahr. 53 Prozent der Deutschen sehen heute keine
besondere Verantwortung Deutschlands mehr gegenüber dem Staat Israel (so die
Forschungsgruppe Wahlen lt. ZDF-Pressestelle, 3.5.2008).
Dennoch ist das Bild komplexer als es auf den ersten Blick scheint: In den
vergangenen Jahren haben zivilgesellschaftliche Initiativen und politische
Stiftungen eine Reihe viel beachteter Anhörungen und Konferenzen zum Thema
"Israelkritik und Antisemitismus" durchgeführt. Niemals zuvor ist das Thema in
Deutschland so intensiv diskutiert worden wie in den letzten Jahren – mit
breiter Unterstützung und selbstkritischer Begleitung durch die Medien.
Wohin steuern die deutsch-israelischen Beziehungen?
• Wie schon angedeutet: Das heutige
Deutschland gehört zu den wichtigsten Partnern Israels: Zehntausende Deutsche
reisen alljährlich nach Israel (2007 etwas über 100.000). In diesem Jahr
rechnet Israels Touristikbranche mit weiteren erheblichen Wachstumsraten (ca.
135.000 Deutsche). Proportional zur Bevölkerung Israels ist der Anteil
israelischer Touristen sogar noch höher: Als Bundeskanzlerin Angela Merkel vor
einigen Monaten in Jerusalem die offiziellen Eröffnungsfeiern zum 60.
Geburtstag Israels eröffnete, wurden wir hierzulande von geradezu euphorischen
Medienberichten überrascht: Junge Israelis finden Deutschland und vor allem
die Hauptstadt Berlin nachgerade "sexy". Berlin hat New York auf der
Beliebtheitsskala abgelöst: ein Zeichen für ein normales Verhältnis?
• Seit über 40 Jahren unterhalten beide Länder diplomatische Beziehungen: An
jedem runden Jubiläumsjahrestag feiern wir diese Beziehungen oder auch das
diesjährige Gründungsjubiläum Israels mit einer Intensität, die im
internationalen Vergleich beispiellos ist – mit Konzerten,
Podiumsdiskussionen, Kulturtagen, Ausstellungen und vielen anderen Events,
überall im Land: Ist dies ein Zeichen für ein normales Verhältnis, Indiz für
eine bloße Pflichtübung oder gar für etwas Drittes?
• Heute unterhalten Hunderte deutscher Städte und Landkreise, Schulen und
öffentliche Institutionen Partnerschaftsprojekte mit israelischen
Einrichtungen – sie werden zumeist von Regierungsseite aus gesponsert. In
einem weltweiten Vergleich kann man sagen: Rein zahlenmäßig rangieren die
Jugendaustauschprogramme beider Länder, wenn es die politische Lage in Nahost
erlaubt, an zweiter Stelle – nach Frankreich, aber noch vor den USA: ein
Zeichen für ein normales Verhältnis?
• Seitdem Amos Oz 1992 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten
hat, boomt die israelische Literatur – ausgerechnet in Deutschland.
Einseitigen Israelbildern wird so differenziertes Wissen entgegengesetzt.
Heute gibt es mehr ins Deutsche übersetzte hebräische Titel als in alle
anderen Sprachen einschließlich des Englischen: Indiz für ein normales
Verhältnis?
• Obwohl Israel nur 0,015 Prozent der Erdoberfläche bedeckt, beziehen sich bis
zu zehn Prozent der Weltnachrichten in den deutschen Medien auf das kleine
Land zwischen Jordan und Mittelmeer: ein Zeichen für ein normales oder ein
Symptom für ein neurotisches Verhältnis?
• Auch die Demoskopie kann den nüchternen Beobachter in die Konfusion treiben:
Eine Umfrage des US-amerikanischen "Pew Global Attitudes-Projekts" vom März
2007 behauptet – man glaubt es kaum: Israel soll seit dem Wahlsieg der Hamas
in den palästinensischen Autonomiegebieten unter den Deutschen die höchsten
Sympathiewerte innerhalb Europas genießen. Die Hamas, die ihre Israelkritik
mit antisemitischen Hasstiraden garniert, treibt die geläuterten Deutschen in
die Arme der Israelis? Ist dieser Befund ein Symptom für ein normales
Verhältnis?
• Ihr Besuch in Israel in Israel hat es gezeigt: Angela Merkel genießt unter
vielen Israelis ob ihrer unerschrockenen Solidaritätsbekundungen mit dem
bedrohten Israel Kultstatus: Und auch das ist ein Faktum: 40 Prozent der
Deutschen bejahen die Frage, ob Deutschland eine besondere
(sicherheitspolitische) Verantwortung gegenüber dem Staat Israel trägt (so die
Forschungsgruppe Wahlen lt. ZDF-Pressestelle, 3.5.2008). Doch gleichzeitig hat
der Handel zwischen Deutschland und Iran – ungeachtet aller
regierungsamtlichen Sanktionsschwüre – in diesem Jahr wieder deutlich an Fahrt
gewonnen. Ein Beispiel: Am 28. Juli 2008 hat das "Bundesamt für Wirtschaft und
Ausfuhrkontrolle" ein 100-Millionen-Euro Deal zwischen einer deutschen Firma
und dem Iran genehmigt. Die Siegener Firma "Steiner-Prematechnik-Gastec" wird
drei neue Gas-to-Liquid-Fabriken im Iran aufbauen. Durch die dadurch
ermöglichte Verflüssigung von natürlichen Gasressourcen wird es dem Iran
möglich sein, seine Transportkosten für Gas signifikant zu verringern. Der
Handel wurde durch Hartmut Schauerte ermöglicht, CDU-Bundestagsmitglied und
Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium.
Erneut die Frage: Was gilt denn nun? Sind
diese offenkundig widersprüchlichen empirischen Daten nun eher symptomatischer
Ausdruck für ein normales oder eher für ein, sagen wir, neurotisches und von
Obsessionen geprägtes Verhältnis? Sollen wir lieber auf das halbleere oder auf
das halbvolle Glas schauen? Wie immer wir die verwirrende Faktenlage
interpretieren mögen: Das deutsch-israelische Verhältnis wird auch in Zukunft
im Fokus anstößiger Provokationen stehen.
Der Essay beruht auf
seinem Eröffnungsvortrag im Rahmen des Lerntags der Landeskirchlichen
Arbeitsgemeinschaft "Juden und Christen" in der Evangelischen Kirche
Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz am 13.10.2008.
Online-Erstveröffentlichung bei
COMPASS 82, November/2008.